Unsere Autoren resümieren: Zhou Wenhan: Fiktionen der Vergangenheit

Romane, Gedichte, Kunstwerke und Geschichtsbilder helfen unserer Vorstellungskraft vom Fremden. Manchmal sind sie sogar „wirklicher“ als die Wirklichkeit selbst.

Anklage: Teil der 1965 entstandenen Arbeit "Hof für die Pachteinnahme", derzeit zu sehen in der Schirn, Frankfurt, als Teil von "Kunst für Millionen. 100 Skulpturen der Mao-Zeit". Bild: Schirn Kunsthalle Frankfurt

In der vergangenen Woche flanierte ich pausenlos über die Buchmesse und kommentierte jede Besonderheit, die mir auffiel. Ein wenig übersättigt fühle ich mich schon von diesen Massen an Büchern und Konferenzen. Daher kehrte ich dem Messezentrum am Samstag vormittag den Rücken, um mich in der Altstadt ein wenig umzuschauen. Während meines Spaziergangs durch Frankfurt tauchten ständig Dinge auf, die mit China zu tun haben.

Da war zum einen die Buddha-Figur aus der Tang-Dynastie, die zur Skulpturensammlung des Liebighauses gehört. Ein deutscher Sammler hat sie bestimmt einmal in den 1930ern von einem Pekinger Kunsthändler erworben. Die Fenster im Hof vor dem Museum beeindruckten mich, weil sie die hoch aufragenden grünen Bäume widerspiegeln.

Im Museum für Moderne Kunst habe ich eine Video-Installation der Künstlerin Sarah Morris über die „Pekinger Olympiade 2008“ entdeckt. Das Video mischt Szenen von der Eröffnungsfeier mit Bildern aus der Lebenswelt einfacher Pekinger Bürger. Es entlarvt zwar auf ironische Weise die Demonstration von Macht und Wohlstand, doch beim vertrauten Anblick Pekings wurde mir ganz warm ums Herz.

Weiter. Das Deutsche Architekturmuseum präsentiert eine Ausstellung über acht zeitgenössische chinesische Architekten. Auf einer Fotografie ist die Gedenkstätte zu sehen, die Liu Jiakun für die kleine Hu Huishan entworfen hat, die letztes Jahr durch das Erdbeben in Sichuan starb. In dem Häuschen sind ein Tennisschläger und ihre Schultasche aufgebahrt, ihre persönlichen Gegenstände.

Am Römerberg, in der Schirn Kunsthalle, zeigt die Ausstellung „Kunst für Millionen, 100 Skulpturen der Mao-Zeit“ die in Stein gehauene Ideologie des Jahres 1965. Dazu gehört auch die Skulpturengruppe „Hof für die Pachteinnahme“. Sie stellt die grauenhafte Ausbeutung der Leibeigenen des Fürsten Liu Wencai dar. Obwohl neuere Forschungen belegen, dass Liu Wencai gar nicht so böse gewesen ist wie behauptet, so stimmt diese Darstellung doch in die KP-Propaganda vom Klassenkampf ein. Aus diesem Grund fand sie damals großen Anklang.

Nicht eine von den kühlen Skulpturen trägt ein Lächeln auf dem Gesicht. Die Brutalität des mächtigen Fürsten und der Aufseher erlaubt nur klagende Gesichter oder hasserfüllte Figuren, die die Waffen gegen den Feind erheben. Diese erschütternden „Revolutionsskulpturen“, die bildhübsche Buddha-Statue, das kleine Mädchen, die Darsteller auf der Olympischen Eröffnungszeremonie, die vielen Bücher aus und über China auf der Buchmesse haben mich in die gewohnte Atmosphäre meines Heimatlandes versetzt. Nach Frankfurt bin ich aber nicht gereist, um mit dem Leser auf Chinas neueste Geschichte zurückzublicken. Auf meinem Spaziergang hielt ich vor allem nach den besonderen Dingen an Frankfurt Ausschau.

Enttäuscht war ich darüber, dass Goethes Geburtshaus und die Herberge, in der Heine einst unterkam, komplett wieder aufgebaut worden sind. Mit diesen beiden Menschen hat das herzlich wenig zu tun. Diese sogenannten „Kulturgüter“ sind gewissermaßen auf einer „Fiktion“ von Geschichte erbaut. Die alten Aufnahmen aus dem Jahr 1944 im Historischen Museum Frankfurt – das von alliierten Bombardements zerstörte Stadtzentrum - lassen mich Mitleid mit dieser Frankfurter „Fiktion“ empfinden. In den letzten 60 Jahren hat man nicht nur Gebäude wieder neu aufgebaut – „neu“, dieses Wort bedrückt mich ein wenig –, sondern auch versucht, an die Vergangenheit wieder anzuknüpfen.

Am Abend traf ich in einem Buchladen eine Iranerin, ihr Name ist Hiwa. Sie lebt schon seit zehn Jahren in Frankfurt. Im nächsten Jahr plant sie eine Chinareise. Um China besser kennenzulernen, liest sich die Romane chinesischer Schriftsteller. Ja, Romane, Gedichte, Kunstwerke und Geschichtsbilder helfen unserer Vorstellungskraft vom Fremden. Manchmal sind sie sogar „wirklicher“ als die Wirklichkeit selbst. Bald wird sie ihre eigenen Vorstellungen in das fremde Peking tragen, und ich, der ich Frankfurt bald verlasse, bringe sowohl gewohnte als auch fremde Eindrücke mit nach Hause.

Frankfurt, adieu.

Aus dem Chinesischen von Jost Wübbeke.

ZHOU WENHAN; geb. 1978, ist freier Autor und lebt in Peking. Er schreibt vor allem für Chinas bekannteste Wochenzeitung Southern Weekend (Nanfang Zhoumo) sowie für Kunst- und Reisemagazine. Bis 2008 war er als Kulturjournalist bei der Neuen Pekinger Zeitung tätig.

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