Geld gegen Crack: Helfen muss man wollen

Bei der Bekämpfung der Crack-Epidemie ist Deutschland Entwicklungsland. Ein Besuch in Zürich zeigt, wie Hilfe möglich ist und was sie kostet.

Crackpfeife

In der Crackpfeife kann man die sogenannten Steine rauchen Foto: Boris Roessler/dpa/picture alliance

ZÜRICH/HANNOVER taz | Alicia Lopez und Raffael Bolli biegen an einem Februarmorgen am Fuß des Zürcher Uetlibergs auf einem steilen Pfad in den Wald ein. Der Förster hat die Sozialarbeiter informiert, dass sich dort jemand seit längerer Zeit eingerichtet habe. Sie kommen auf eine Lichtung mit Holzkonstruktionen, ein Regal, eine Art Tempel und eine Überdachung mit grüner Plane. Darunter steht ein Zelt, eine Menge Plastikmüll liegt herum, dutzende Flaschen voller dunkelgelber Flüssigkeit, vermutlich Urin, und Essensreste.

„Guten Morgen! Wir sind von der sip züri“, ruft Raffael Bolli. Nach einiger Zeit steckt ein Mann um die 70 seinen Kopf aus dem Zelt. Sie unterhalten sich und Bolli erklärt ihm, dass er drei Tage habe, um zusammenzupacken. Dann müsse er in eine Unterkunft ziehen. Der Mann sagt, dass er hier schon anderthalb Jahre wohne, willigt schließlich aber resigniert ein. Sip züri zieht ab.

Sip züri steht für Sozialarbeit, Intervention, Prävention: eine aufsuchende Sozialambulanz, die im Jahr 2000 gegründet wurde. Nach Zahlen aus 2016 bekam sie per Volksabstimmung einen jährlichen Etat von umgerechnet knapp drei Millionen Euro zugewiesen. Ihre Aufgabe ist es, Menschen in sozialen Notlagen zu helfen, Konflikte zu schlichten, zu vernetzen und zu gewährleisten, dass der öffentliche Raum in Zürich allen zugänglich ist. Die Ambulanz verfügt über 34 Vollzeitstellen. Täglich ziehen zwei Zweiergruppen durch die Stadt

Die Sozialarbeit ist eine Säule der Zürcher Drogenpolitik. Aber auch durch breit gefächerte Wohnungsangebote konnten Obdachlose – die Überschneidung mit der Drogenszene ist groß – von der Straße weg sicher untergebracht werden. Offenen Drogenkonsum sieht man in Zürich kaum. Liegt hier ein Modell vor, wie Deutschland mit der Crack-Epidemie umgehen könnte? Seit einigen Jahren überrollt eine Crackwelle viele Großstädte besonders im Westen des Landes. Das fällt besonders deswegen auf, weil die Konsumierenden innerhalb kürzester Zeit verelenden und verwahrlosen.

Erfolgreich eingedämmt

Zürich ist dafür bekannt, seine offene Drogenszene erfolgreich eingedämmt zu haben. In den späten achtziger und frühen neunziger Jahren kamen vom Zürcher Platzspitz, auch „Needle-Park“ genannt, Bilder, die sich im Bewusstsein der Stadt eingeprägt haben. Bis zu 3.000 Süchtige gingen täglich in den von Müll und Spritzen übersäten Park, um – damals noch zumeist Heroin – zu konsumieren.

Nachdem die Stadt 1992 aufgrund des öffentlichen Drucks beschloss, den Park zu schließen, zogen die User_innen in den stillgelegten Bahnhof Letten weiter, wo sich ähnliche Szenen abspielten. Drei Jahre später wurde auch Letten geschlossen. Dank einer seit 1994 entschlossenen nationalen Drogenpolitik, die aus Maßnahmen in den Bereichen Therapie, Überlebenshilfe, Repression und Prävention bestand, verhinderte Zürich zunächst eine neue zentrale Szene. Später entstanden dann kleinere Szenen über die Stadt verteilt, unter anderem in der Bäckeranlage, einem kleinen Park im Zentrum Zürichs.

Als Alicia Lopez und Raffael Bolli mittags dort hinkommen, ist die Lage entspannt. Die Sonne scheint, man grüßt nett und tauscht sich aus. Die Sozialarbeiter suchen jemanden, der Tigrinya spricht, da sie einem Mann aus Eritrea helfen wollen, der kein Deutsch oder Englisch kann. Sie nehmen sich Zeit. Über den Tag hinweg gibt es keine Quote an Fällen, die sie erfüllen müssen. Lopez und Bolli tragen Uniform, in der gleichen Farbe wie die Polizei und andere städtische Behörden. „Dunkelblau ist die Farbe auf dem Zürcher Wappen“, erklärt Lopez. In der Zwischenzeit haben sie orange Accessoires bekommen, um sich von der Polizei klarer abzuheben.

Die Ursachen angehen
Zwei Menschen in Uniform stehen an einem Zelt

Alicia Lopez und Raffael Bolli im Wald am Zürcher Uetliberg Foto: Valérie Catil

Die Sozialarbeiter_innen versuchen für die Öffentlichkeit erkennbar und ansprechbar zu sein, lassen aber den Menschen, mit denen sie sprechen, immer die Möglichkeit, die Situation zu verlassen. Sip züri ist zur Vermittlung und Vernetzung da, hat keine exekutive Macht. Das, wozu die Polizei oft nicht in der Lage ist, weil die Begegnungen einschüchternd oder konfrontativ sind, können die Sozialarbeiter_innen auffangen. Sie versuchen, an die Ursachen zu gehen.

Mara Brügger, sip züri-Teamleiterin

„Es ist einfach nicht realistisch, dass eine süchtige Person eine ganze Nacht ohne zu konsumieren an ihrem Schlafplatz bleiben kann.“

Um die Drogenkrise einigermaßen in den Griff zu bekommen, braucht es Wohnraum für die betroffenen Menschen. Die Angebote richten sich dabei nicht ausschließlich an Abhängige. Teamleiterin Mara Brügger sagt: „Es gibt Notschlafstellen für Menschen, die akut einen Schlafplatz brauchen, Nachtpensionen, wo man auch Drogen konsumieren kann, beaufsichtigtes Wohnen für diejenigen, die in keines der Angebote hineinpassen, oder Übergangswohnungen zum Beispiel für Jugendliche.“ Dabei sei es wichtig, auf die spezifischen Bedürfnisse einzugehen: „Es ist einfach nicht realistisch, dass zum Beispiel eine süchtige Person eine ganze Nacht, ohne zu konsumieren, an ihrem Schlafplatz bleiben kann.“ Oft sei den Menschen schon viel geholfen, wenn sie eine Tür hinter sich schließen könnten.

Hannover ist voll. Sämtliche Übernachtungsmöglichkeiten für Drogenabhängige seien ausgeschöpft, sagt Frank Woike, Sucht- und Drogenbeauftragter der Stadt. Zudem ist in Deutschland der Drogenkonsum in Einrichtungen streng verboten. „Gerade Menschen, die Crack konsumieren, tun dies oft 2-3 Tage, ohne zu schlafen, sind völlig erschöpft und schlafen manchmal schon im Stehen ein.“

Pläne, aber kein Geld

Lars Eilers nickt. Er leitet den einzigen Drogenkonsumraum in Niedersachsen, das Stellwerk in Hannover. Das Hannoveraner Bahnhofsviertel geriet immer wieder als „gefährlichste Drogenszene“ in die Schlagzeilen. „Ein paar Schlafplätze direkt hier am Stellwerk würden uns weiterhelfen, damit sich die Menschen ein paar Stunden hinlegen können“, sagt Eilers. Pläne dafür gibt es bisher nicht, es fehle an Geld.

Stattdessen soll bald ein Crackkonsumraum kommen. „Bisher haben wir nur einen kleinen Raum, in dem man Heroin rauchen kann. Da können wir Crack-Raucher_innen nicht hinschicken.“ Dafür müssten sie nämlich an den Plätzen für den intravenösen Heroinkonsum vorbei. „Das sind so verschiedene Drogen und Wirkungen, das würde nur für Chaos sorgen.“

Menschen, die Crack rauchen, sind oft aufgewühlt, manchmal sogar aggressiv, wohin­gegen Heroin beruhigt. Deshalb brauche es einen Anbau. „Die Finan­zierung dafür ist gesichert, er muss nur noch gebaut werden“, sagt Woike. So könne man ­verhindern, dass Crack in der Öffentlichkeit geraucht wird und dass sich die Konsument_innen Pfeifen teilen. Auch könnten sie dann andere Angebote vor Ort wahrnehmen, etwas essen, trinken oder medizinisch versorgt werden.

Alles für den nächsten Stein

Ein Crackkonsumraum allein reiche allerdings nicht. Betten fehlen in Hannover weiterhin. „Um den privaten Besitz zu schützen, konnten wir Spinde in die Unterkünfte einbauen lassen“, erklärt Woike. Denn oft entschieden sich Menschen ohne Obdach erst gar nicht dazu, in Notschlafstellen zu übernachten, da man dort regelmäßig beklaut werde.

Lars Eilers sagt: „Das hat sich schon verändert. Ohne die alten Zeiten idealisieren zu wollen, früher gab es noch einen Funken Gemeinschaftsgefühl. Heute ist jede_r für sich. Es geht oft nur um den nächsten Stein.“

Crack kocht man entweder zu Steinen im Konsumraum auf oder man kauft es bereits in Stein­form auf der Straße. Da Crack nur etwa 10 Minuten lang wirkt, muss man auch viel davon kaufen. Konsument_innen geben bei einem Preis von 2 Euro pro Konsumvorgang oft 200 bis 300 Euro am Tag aus, sagt Eilers. Der gesamte Alltag werde dadurch bestimmt, dieses Geld aufzutreiben und zu verrauchen.

Psychotische Zustände

Wie holt man Menschen aus dieser Spirale raus? „Unsere Aufgabe ist es, die grundlegendsten Dinge bereitzustellen: Essen, Trinken, eine warme Dusche. Über Wege aus dem Konsum könne man selten sprechen, da User_innen oft in psychotischen Zuständen seien, so Eilers. „Wenn wir können, versuchen wir die Menschen in den Sozialleistungsbezug einzugliedern, sie etwa mit einer Krankenversicherung auszustatten, damit sie sich medizinisch versorgen lassen können.“ Für Akutes bräuchte man im Stellwerk aber keine Karte. Einmal die Woche komme auch ein Arzt für Rezepte, Ein- oder Überweisungen.

Letztlich könne aber nur ein Substitutionsprogramm grundlegend etwas verändern, meint Woike. „Zusammen mit anderen Großstädten wird mit Hochdruck an einem Substitutionsmittel gearbeitet. Der Bund ist mit der Bitte um Unterstützung angefragt worden.“ Denn ohne einen Stoff funktioniere es nicht, Leute aus dem Konsum zu holen.

Zudem bräuchte es in Niedersachsen Drugchecking. Die von dort aus nächsten Drugchecking-Stellen sind die in Hamburg oder Berlin. Eine Studie der Deutschen Aidshilfe ermöglichte, dass man in einigen deutschen Drogenkonsumräumen zumindest sein Heroin auf gefährliche Fentanyl-Beimengungen testen lassen konnte. „Das Angebot wurde positiv angenommen. So konnten wir potentielle Überdosen vermeiden“, sagt Eilers. Pläne dafür, diese Tests weiterzuführen oder Drugchecking anderweitig zu etablieren, gibt es in Niedersachsen nicht.

Immer wieder wird in den Gesprächen klar: der Wille ist da. Es geht allein ums Geld, das niemand geben will. Der Blick nach Zürich ist deswegen zwar inspirierend, aber auch deprimierend. Denn die haben Mittel und Zeit – soviel, dass sie sogar im Wald vorbeischauen können.

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