Romanadaption am Berliner Gorki Theater: Die Suche nach der eigenen Stimme

„Unser Deutschlandmärchen“: Hakan Savaş Mican verwandelt Dinçer Güçyeters vielstimmigen Migrationsroman am Berliner Gorki in ein Mutter-Sohn-Musical.

Eine Schauspielerin kniert auf einer Bühne.

„Unser Deutschlandmärchen“ ist ein lässiges Hybridmusical Foto: Ute Langkafel/maifoto

Der Abend beginnt mit Trauer und Glitzer. Taner Şahintürk steht in ein ärmelloses schwarzes Glitzerkleid gezwängt vor dem Sarg der Mutter. Verlegen kneten seine Hände einen Stoffbeutel. In diesem befinden sich Schlüsselobjekte: Hochhackige rote Damenschuhe, die der Sohn im zarten Alter von 8 Jahren seiner Mutter von den ersten beiden Wochenlöhnen kaufte. Das Geld verdiente er auf einem Gurkenacker im Ruhrgebiet.

Damit ist der erste Handlungskreis eröffnet: Armut und Ausbeutung. Die Schuhe trug die Mutter nur einmal, der Sohn hingegen viel öfter. Er probierte damit andere Geschlechterrollen aus. Die Mutter merkte nichts davon. Das ist der zweite Handlungskreis: Das Ausbrechen des Sohns aus dem proletarischen Duldermilieu. Er schreibt Gedichte, spielt Theater, nimmt an schwulen Sexpartys teil und will erkunden, was ihn wirklich ausmacht.

Dazu gehört auch das Ausloten des Verhältnisses zur Mutter. Und daher kulminiert in der Eingangsszene mit den noch im Stoffbeutel versteckten Schuhen einiges. Es liegt am Können Şahintürks, dass schon so früh so viel dieser Spannungen zu spüren ist. Ohne ein einziges Wort zu sagen, lässt er es in seinem Gesicht brodeln, drückt Verlegenheit, Trotz und Aufbruch im Vergraben seiner Hände aus. Man ertappt sich dabei, zu denken: „Rede nicht!“, denn Worte können diese Stimmung nur kaputt machen.

Natürlich redet Şahintürk dann doch, spricht von den Demütigungen, die ein „Gastarbeiter“-Kind erfahren musste. Von bösen Kinderspielen und von Lehrern, die den Namen falsch aussprechen, was später auch Lehrmeister und Vorarbeiter übernehmen. Ein Leben in zwei Kulturen, zwei Sprachen, mit zwei unterschiedlichen Identitäten ist hier markiert.

Die Mutter erhebt die Stimme

Der Mutter Fatma wirft Dinçer vor, zeitlebens angepasst gewesen zu sein, fleißig gearbeitet und die Familie am Laufen gehalten zu haben. Ihre eigene Stimme habe er jedoch nie vernommen.

Da irrt der Sohn als Protagonist freilich. Das Gute an „Unser Deutschlandmärchen“ ist, dass Autor Dinçer Güçyeter, und mit ihm Regisseur Savaş Mican, die Mutter zumindest einmal die eigene Stimme ganz laut erheben lassen: Dann nämlich, wenn sie – Allah ganz nebenbei um Verzeihung bittend – in eine christliche Kirche geht und von Maria erfleht, ihr zu einem Kind zu verhelfen. Denn Maria, die Jungfrau, die ein Kind geboren hat, wisse gewiss am besten, wie eine Frau mit nur ganz wenig Berührung zu einem Sohn komme.

Sesede Terziyan interpretiert die Mutter lange als jüngere Frau, mit modischen Accessoires wie schicker Sonnenbrille und engem kurzem Rock (Kostüme: Sylvia Rieger). Ihre Fatma ist – zum Glück! – gerade nicht die verhärmt-verhuschte, vorzeitig gealterte „Gast“-Arbeiterin, wie die Fotos suggerieren, die immer mal wieder auf die Bühne (Alissa Kohlbusch) projiziert werden.

Dass sie durchaus Kraft hat, wird nicht nur an der Forderung an Maria deutlich, sondern auch am Ausspruch an den Sohn, dass er Fleisch von ihrem Fleische sei und gefälligst tun solle, was sie sich von ihm erhoffe: groß und stark sein, und weil Stärke im Kapitalismus Geld bedeute, auch schönen Reichtum erlangen.

Sie bemerkt auch, dass Dinçer selbst seine Stimme noch nicht gefunden habe: Erste Gedichtversuche stellt er mit einer Melange aus Videotiteln aus dem Puff, in dem er putzt, und Textzeilen der türkischen Popsängerin Sezen Aksu an. Da schließt sich der Kreis des Nicht-zur-eigenen-Stimme-Findens.

Heavy Metal mit Oud und Saz

Als wollte er diesen Aspekt unterstreichen, lässt Regisseur Savaş Mican die Mutter vor allem herzzerreißende türkische Lieder interpretieren, während sich der Sohn primär durch Songs des Ruhrgebietsrockers Herbert Grönemeyer oder der Heavy-Metal-Band Danzig auszudrücken versucht. Erneut transportieren die Stimmen der anderen die eigenen Emotionen.

Weil die Begleitband das sehr geschickt macht, sich sogar herausstellt, dass schönster Heavy Metal auch mit traditionellen Lauten wie Oud oder Saz erzeugt werden kann, wird „Unser Deutschlandmärchen“ zu einem lässigen Hybridmusical. Der rauschende Applaus deutet an, dass Geschichten wie diese auf deutschen Bühnen immer noch zu wenig erzählt werden.

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