Vorwürfe gegen Temu: Billiges China-Bashing

Temu ist dabei, Amazon das Zepter im Onlinehandel aus der Hand zu reißen. Das sollte Anlass sein, solche Plattformen insgesamt besser zu regulieren.

weisse Glückskatzenplastikfigur

Vorurteile sind nie gute Urteile – und meistens auch noch heuchlerisch Foto: imago

Unlautere Beeinflussung der Kund*innen, irreführende Werbung, unzulässige Dumpingpreise, Schrottprodukte, umweltschädigende Lieferwege, krebserregende Substanzen in Kinderspielzeug. Die Vorwürfe gegen die Handelsplattform Temu werden immer mehr, die beschriebenen Mängel immer drastischer. Drastischer wird auch der Tonfall der Anwürfe, denn Temu gehört einer chinesischen Holding und bietet chinesische Waren an.

In wiederkehrenden Wellen wird seit Jahrzehnten die Bedrohung der jeweils heimischen Wirtschaft in Nordamerika und Europa durch billige Produkte und unsaubere Geschäftspraktiken beschworen. In diesen Tagen erst rufen US-Präsident Biden und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine weitere Runde des immerwährenden kalten Handelskrieges aus. Mit einer Rhetorik, die in Europa sonst eher Geflüchteten vorbehalten ist, warnt von der Leyen davor, dass Stahl und Elektroautos den europäischen Markt „fluten“ würden. Die Welt könne nicht Chinas Überproduktion aufnehmen. Biden macht die durch ungebremste staatliche Subventionen stark verbilligten Produkte als Problem aus. Sein Urteil über das chinesische Wettbewerbsgebaren ist prägnant: „Die konkurrieren nicht, die betrügen.“

Und wenn die großen Ritter den Harnisch anlegen, dann darf sich der einfache Landsknecht bei der Verteidigung des Standorts nicht zurückhalten. Raoul Roßmann, von Beruf Sohn und Nachfolger eines Drogeriekettengründers, würde Temu wegen seiner Geschäftspraxis gerne abschalten. „Finger weg von Billigschrott aus China!“, rät auch der Influencer Ron Perduss seinen Hunderttausenden Zuschauer*innen. Dass Perduss sich ausgerechnet Tiktok, die hochgradig umstrittene chinesische soziale Plattform, zur Aussendung seiner Videobotschaften ausgesucht hat, ist dabei nur Symptom eines größeren Problems.

Denn selbst seriöseste Organisationen wie die deutschen Verbrauchzentralen, die Temu völlig zu Recht unter anderem wegen intransparenter Rabatte und sogenannter Dark Patterns, der verbotenen Beeinflussung bei der Nutzerführung, abmahnt, rütteln kaum am Geschäftsmodell der digitalen Plattform. Dieses beruht auf dem Streben nach Marktbeherrschung. Nach der Ausschaltung jeglicher Konkurrenz ist Kontrolle sowohl über Verkäufer als auch Käufer gewonnen und beide werden mit heftigen Gebühren ausgenommen. Nur das Versprechen solcher Übermonopole macht das jahrelange Verlustgeschäft der Plattform bis zum Durchbruch für Risikokapital interessant.

Großes Vorbild

Temu spielt mit dieser Strategie nach der Anleitung eines großen Vorbilds: Amazon. Dessen Aufstieg begann damit, durch guten Service und günstige Preise Ver­käu­fe­r*in­nen und Kaufinteressierte selbst der obskursten Produkte zusammenzubringen. Dass die Plattform inzwischen qua Marktmacht in allen möglichen Geschäftszweigen kleinere Anbieter vernichtet und schlechte Produkte zu überteuerten Preisen verscherbelt, war dabei von Anfang an eingepreist. Genauso wie die maximale Ausbeutung der Angestellten und Abhängigen, inklusive totaler Überwachung und Union Busting.

Temu geriert sich nun als eine Art Amazon auf Anabolika. Die Grenzen zwischen den Phasen der Expansion vom sexy nächsten großen Ding bis zur bleiernen Kontrolle über den Markt verschwimmen dabei in einem überblendeten Zeitraffer.

Statt angesichts der chinesischen Disruption protektionistischen Nationalismus zu ventilieren, ließe sich die ganze Aufregung doch gut dafür verwenden, die Werkzeuge zur Regulierung der Digitalplattformen zu verbessern – und vor allem auch auf Plattformen, die nicht chinesischen Holdings gehören, anzuwenden.

Der Digital Service Act, grad erst verabschiedet, böte sich an, oder auch das Lieferkettengesetz, um die Wirksamkeit staatlicher Eingriffe zu testen, genauso wie eine robuste Verteidigung und Erweiterung der Rechte abhängig Beschäftigter. Dann ist vielleicht die FDP nicht mehr mit im Boot, aber wenigstens klängen die Angriffe dann nicht gar so protorassistisch. Außerdem würde der Ver­brau­che­r:in­nen­schutz nicht irgendwelchen Tiktokern und Milliardärserben überlassen und nicht mehr nur als reine Konsumberatung wahrgenommen werden können.

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Jahrgang 1976, Redakteur für die tageszeitung 2006-2020, unter anderem im Berlinteil, dem Onlineressort und bei taz zwei. Public key: https://pgp.mit.edu/pks/lookup?op=vindex&search=0xC1FF0214F07A5DF4

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